1 CD |
€ 19.95
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Preorder |
Label Perfect Noise |
UPC 0719279934151 |
Catalogue number PN 2405 |
Release date 10 January 2025 |
Der Klang des Innenlebens
Die Musikgeschichte ist voll von „Gänsehautmomenten“ – jenen Momenten, in denen Klänge ganz nah an uns herankommen, in unsere geheimsten Winkel eindringen und etwas in uns zum Klingen bringen. Manchmal ist es ein großer, opulenter Orchesterklang oder die Energie eines Popkonzerts mit Tausenden von Menschen. Meistens sind es jedoch die Momente extremer Reduktion, fast bis zur Essenz des Klangs, die Körper und Seele so berühren, dass wir noch Wochen oder Monate später daran denken. Wenn Musiker diese Art von Reduktion anstreben und sich in der extremsten Konzentration künstlerischer Ressourcen verwundbar machen, scheint die Aura des Außergewöhnlichen durch. Ein solcher Moment kommt zum Beispiel in Bachs berühmter Matthäus-Passion vor, kurz bevor Jesus mit letzter Kraft ausruft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ Und dann erhebt sich eine Altstimme: „Ach, Golgatha“, und offenbart so etwas wie die Kernbotschaft dieses Bach-Werks und das Thema: „Das erreicht meine Seele!“
Diese Szene bei Bach ist ein spätes Beispiel aus einer Epoche der musikalischen Erforschung der Seele. Nur am Rande sei erwähnt, dass es in Grimms Wörterbuch, dem größten deutschen Wissens- und Sprachkompendium der frühen Neuzeit, über 2.000 Wörter gibt, die sich um den Begriff „Seele“ (Seele) bilden lassen: Seelendiät (Nahrung für die Seele), Seelenfieber (Seelenfieber), Seelenherzchen (ein Kosewort, wie Schatz), Seelengewitter (ein emotionaler Ausbruch), Seelenmelodie (Melodie der Seele), Seelenmut (Seelenmut) oder Seelenwürze (Seelenwürze, was sich auf die Fähigkeit bezieht, das Leben mit Fantasie zu würzen) – und natürlich Seelentrost. Isabel Schicketanz nimmt uns auf ihrer Debüt-CD an die Hand und führt uns in diese musikalische Erkundung der Seele. Sie bringt uns zu den Quellen eines ganz besonderen Klangs, wo wir Lieder finden, die durch ein gemeinsames Anliegen vereint sind: die Seele zu trösten.
Einsamkeit, Schock, Trauer, Angst – und Trost, Kontakt, Liebe: Während der Barockzeit im 17. und 18. Jahrhundert sind dies musikalische Leitmotive. Sie werden in unzähligen Variationen des Begriffs „Seele“ untersucht. Dieses „Etwas“, dessen Existenz zumindest im voraufklärerischen Barock unangefochten war; dieses „Etwas“, das Seele genannt wird und in Liedern, Gesängen und Konzerten meist in Bedrängnis gerät. Themen, die direkt aus dem Leben gegriffen sind, finden direkt in der Musik Ausdruck: existenzielle Angst, Krankheit, die Allgegenwart des Todes, Krieg ...
So wie sich die Welt um 1600 in rasantem Tempo veränderte, so entwickelte sich auch das Denken und Fühlen in dieser Zeit, in die uns das Programm von Isabel Schicketanz eintauchen lässt. Und schon dieses Wort „eintauchen“ führt uns mitten hinein in diesen Wandel des Denkens: Von der Wissenschaft (heliozentrisches Weltbild) über die Philosophie (Descartes „cogito, ergo sum“) bis hin zur Kunst vollzog sich ein Bewusstseinswandel, und der Mensch in all seinen psychischen und physischen Dimensionen gewann immens an Bedeutung. Die Künste, vor allem die Malerei und die Musik, erwiesen sich als Medien, mit denen sich die Menschheit in ihrer Tiefe erforschen ließ – unsere innere Verfassung, Gefühle, Gedanken, Hoffnungen und Ängste. Auch die audiovisuellen Künste waren besonders gefragt, da ein Großteil der europäischen Bevölkerung Analphabeten waren. Zwar gab es bereits populäre Trostbüchlein (kleine Bücher des Trostes – Sammlungen von Lebensweisheiten) und Gebetssammlungen zur spirituellen Erbauung, doch das Buch war noch nicht zum Massen- oder Leitmedium geworden. Dies führte dazu, dass die bildende Kunst dramatisch realistisch wurde und das menschliche Leben fast zwanghaft darstellte, sowohl von seiner guten als auch von seiner schlechten Seite. Die Musik hingegen konnte hauptsächlich auf zwei grundlegende Arten wirken: durch Überwältigung oder durch Empathie. In der Musik führen die Lebenserfahrungen während dieser Krise im Gegensatz zur Malerei weniger zu einem gesteigerten Realismus, sondern veranlassen uns vielmehr, die Auswirkungen des äußeren Lebens auf das innere Erleben zu verfolgen. Und es entsteht ein einzigartiger Klang des inneren Lebens.
Musik des (frühen) Barock ruft Sympathie hervor, bietet Identifikationsmöglichkeiten und dient als Vehikel für moralische oder religiöse Lehren. Und schließlich kann und will die barocke musikalische „Erforschung der Seele“ als Soundtrack des Lebens Unterstützung, Trost und Kraft spenden. Die Aufnahme der Sopranistin Isabel Schicketanz zeigt dies eindrucksvoll. Sie ist eine Zusammenstellung herausragender Werke aus dem 17. Jahrhundert, wie etwa der fast existenzielle Schrei „Eile, mich, Gott zu erretten“ („Hurry, God, to rescue me“) von Heinrich Schütz. Das Programm reicht jedoch weiter in das hinein, was wir heute als kulturelle Bandbreite bezeichnen würden: Werke von Komponisten, die sich in illustren höfischen Kreisen bewegten, aber auch ein Auge für das kulturelle Alltagsleben in größeren und kleineren Städten hatten. Die Werke sind bewegend und zart gestaltet – wertvolle Entdeckungen aus dem nahezu überquellenden Schatz der mitteldeutschen Kultur – von Komponisten wie Heinrich Albert, Johann Theile, Matthias Weckmann oder David Pohle. Das verbindende Element zwischen diesen Männern ist, dass sie alle Schüler von Heinrich Schütz waren. Der Dresdner Hofkapellmeister hat nicht nur durch seine Kompositionen den musikalischen Fortschritt in Mitteleuropa vorangetrieben, sondern als Lehrer, Mentor, Gutachter und Fürsprecher gleichermaßen dazu beigetragen, die Zukunft der Musik auf den Weg zu bringen.
Wenn auch die Namen, die mit der lebendigen Kultur vor etwa 350 Jahren verbunden sind, größtenteils nur Fachleuten und Enthusiasten bekannt sind – obwohl es zumindest Lexikonartikel, veröffentlichte Partituren und gelegentliche Aufnahmen gibt –, so ist Sophie Elisabeth (1613-1676) wahrscheinlich völlig unbekannt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass sie Historikern bekannt ist, da sie Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel wurde. Aber diese Sophie Elisabeth war auch eine Expertin der Künste und lernte Komposition bei Heinrich Schütz, den sie 1638 in Dresden kennengelernt hatte. In Wolfenbüttel schuf sie eine bemerkenswerte Vielfalt an Liedern und musikalischen Komödien. Und abgesehen von der Musik sind ihre Dramen, Gedichte, Libretti, Übersetzungen und Andachtsliteratur überliefert. Es ist Isabel Schicketanz hoch anzurechnen, dass sie ihren Blickwinkel von der immer noch engen Fokussierung auf eine männliche Kulturgeschichte erweitert und diese Kleinode von Sophie Elisabeth in ihre Programmkonzeption einbezieht. Es sind Lieder aus dem persönlichen Gesangbuch der Herzogin, die in ihrer Schlichtheit berühren. Diese Weltersteinspielung bringt endlich einige dieser Lieder zu Gehör.
Apropos Programmkonzeption: Mit den Werken dieser Aufnahme schlägt Isabel Schicketanz einen Weg ein, der uns Hörer zunächst in die Dunkelheit führt und uns die Schattenregionen der Seele erkunden lässt. Eine zweite Werkgruppe, aus Heinrich Schütz' „Ich harrete des Herren“ („Ich wartete geduldig auf den Herrn“), porträtiert einen Menschen, der lebt und liebt, der alle Aspekte des Lebens gekostet hat und diese Erfahrungen (des Lebens und des Glaubens) weitergeben kann. Der dritte und letzte Teil beginnt mit Heinrich Alberts „Dass alle Menschen sterben“. Die Gewissheit des Todes wird jedoch mit dem Versprechen der kommenden Erlösung ausgedrückt. Eine gewisse Gelassenheit ist zu hören, ein inneres Lächeln und Licht, das auf tieferen Einsichten in das Leben und die Seele beruht.
Diese musikalische Erkundung der Seele ist rein und direkt. Die Sopranistin Isabel Schicketanz erweist sich als mutige Künstlerin, die sich ins Freie begibt, eine Art Verletzlichkeit zulässt und so dem „Seelentröstlichen“ Raum gibt, sich zu öffnen, zu entfalten und zu zeigen. Mit diesem Programm verfolgt sie einen Ansatz der Konzentration und Reduktion – und gerade durch diese Reduktion äußerer Mittel erstrahlen eine große Bandbreite an Emotionen und, ja, Einsichten in das Leben in den Nuancen und Schattierungen der Musik. Und dann sind sie da: die Gänsehautmomente, die unsere Seelen erreichen.
Dr. Oliver Geisler